Welche Fehler können Schreibzentren vermeiden? Aus der Geschichte von Schreibzentren lernen

idea of a writing laboratoryIch lese gerade „The idea of a writing laboratory“ von Neal Lerner. Wer sich mit Schreibzentrumsarbeit befasst wird wissen, dass der Titel anspielt auf den Essay “The idea of a writing center” von Stephen North, ein Essay der sehr viel zitiert wird und als programmatisch gilt für Schreibzentren. Lerner sucht in seinem Buch genau danach – was ist programmatisch für Schreibzentren? Wie sind sie entstanden und wie haben sie sich entwickelt? Und wie wurden sie immer auch geprägt durch die zeitlichen Umstände?

Experimentelles Lernen im Schreiblabor

Bewusst nutzt Lerner dabei den Begriff „Writing Lab“ statt „Writing Center“. Dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen bezieht er sich damit auf die historischen Wurzeln, denn die ersten Schreibzentren waren „Writing Laboratories“. Zum anderen geht es Lerner auch sehr stark um naturwissenschaftliches Schreiben: um das Schreiben, das im naturwissenschaftlichen Unterricht und in den naturwissenschaftlichen Laboren stattfindet. Naturwissenschaftliches Lernen läuft im Idealfall, so Lerner, über Beobachten und Experimentieren. Diese Art des experimentellen Lernens war es, die zur Entstehung von Schreibzentren – bzw. Writing Labs – führte. Entgegen der in der Literatur verbreiteten Annahme, dass Writing Labs in ihren Anfängen darauf ausgerichtet waren, schlecht Schreibende zu kurieren, ging es laut Lerner ganz am Anfang nämlich um ein reformpädagogisches Experiment. Die Idee der ersten Writing Labs war es, Labore zu schaffen in denen ein experimentelles Lernen stattfindet, ein learning-by-doing, so wie auch in den Lernlaboren der Naturwissenschaftlichen Fakultäten. Writing Labs sollten eine individualiserte Ergänzung sein zum Schreibunterricht im Klassenzimmer und ein eigenständiges Lernen ermöglichen.

Das allererste Schreibzentrum?

In seinem Buch begibt sich Lerner auf Spurensuche und versucht in Uniarchiven und frühen Publikationen das allererste Writing Lab zu finden. Obwohl diese Suche nicht dazu führt, das allererste Schreiblabor zu identifizieren, ist die Recherche, auf die Lerner die Lesenden mitnimmt, sehr spannend.  Leider hat Lerner  viele Zeugnisse dafür gefunden, dass writing labs oder writing clinics sehr bald nach den ersten und aus heutiger Sicht sehr modernen Ansätzen tatsächlich zu Straf- und Heilanstalten für schwache Schreibende wurden, in denen man sie von der „desease of bad writing“ heilen wollte. Lerner zeigt allerdings, dass dies weniger dem mangelnden Reformwillen geschuldet war als vielmehr dem erdrückenden Mangel an Ressourcen der English/Composition teacher. Oft hatten ihre Klassen um die 100 Schüler und Labormethoden waren schlichtweg aus Mangel an Kapazitäten nicht möglich.

Lerner warnt ausdrücklich davor, wie leicht experimentellen und reformerischeAnsätze in ihr Gegenteil umschlagen können und zu billigen Möglichkeiten werden, schlecht vorbereitete Studierende abzufertigen und sie außer Sicht zu manövrieren.

Historische Beispiele von Writing Labs und Writing Clinics

Im vierten Kapitel beleuchtet Lerner zwei historische Beispiele genauer. Das eine ist das Writing Laboratory des General Colleges in Minnesota, einem Two-Year-College das 1932 eröffnet wurde. Es sollte diejenigen Studierenden ausbilden, die es nicht auf ein normales College schafften oder dort im Laufe ihres Studiums an den Anforderungen scheiterten. Der Anspruch des Colleges war explizit ein Reformansatz, bei dem es darum ging, mehr Praxisbezug herzustellen und eine Allgemeinbildung zu fördern, von der man hoffte, sie würde die Menschen zu mündigen und verantwortungsbewussten Bürgern machen. Dieses Writing Lab entsprach, wie Lerner zeigt, schon in den 1930er Jahren in Vielem den heutigen Ansätzen. Die Studierenden konnten „writing lab“ als Fach wählen, es gab kein First-Year- Composition. Sie verbrachten ihre Zeit schreibend im Lab und bekamen dabei individuelle Unterstützung durch die dort anwesenden Lehrenden, ganz wie in einem naturwissenschaftlichen Labor. Die Wahl der Schreibaufgaben war weitgehend frei. Viele Studierende wählten Schreibaufgaben, die sie für andere Kurse schreiben mussten, andere schrieben literarisch. Allerdings zeigt Lerner anhand der historischen Dokumente, dass auch damals schon fehlende Ressourcen und Überabeitung des Personals ein großes Problem waren und schließlich zum Scheitern des Writing Labs führten.

Das andere Beispiel ist die Writing Clinic am Dartmouth College, einer extrem elitären Einrichtung. Hier wurde die clinic zunächst von einem Studenten eingerichtet, der von sich aus auf die Idee kam, jüngeren Kommilitonen beim Schreiben zu helfen. Da er selbst eine große Affinität zum Schreiben hatte, war der Ansatz zunächst sehr positiv. Aber schon bald sprang auch die Presse, die New York Times, darauf an wie schlecht Studierende schreiben und bald war alles nur noch auf die schlechten Schreibenden ausgerichtet.  In den folgenden Jahren gab es wechselnde Schreibzentrumsleiter von denen keiner mehr als drei Jahre blieb. Der Job muss sehr undankbar gewesen sein. Vor allem war es sehr schwierig, Lehrende dazu zu bewegen, mit der Clinic zu kooperieren. Es gab ein Kommittee, das immer wieder schriftlich an die Lehrende appelierte, schwache Schreibende zu schicken, aber wenig Reaktionen. 1959 erhielt das College dann eine Spende von 60.000 Dollar zur Untersuchung des studentischen Schreibens. Es wurden zwei anerkannte Forscher aus Kansas geholt, Alber Kitzinger und Vincent Gillespie. Kitzinger wehrte sich gegen das Image von der Heilanstalt für „kranke“ Schreibende und meinte, die Lehrenden müsste nicht schwache Studierende identifizieren, sondern anspruchsvollere Schreibaufgaben stellen und diese unterstützen. Kitzinger schloss die Writing Clinic, weil er der Meinung war, dass eine Schreibförderung mit Breitenwirkung die Unterstützung aller Lehrenden braucht. Eine Writing Clinic führe dagegen dazu, dass man als Lehrperson unangenehmen Fälle einfach abschieben kann an die Clinic. Kitzinger bezog sich auf die Tradition von Rhetorik, um Composition als akademische Disziplin zu etablieren. Das heutige Writing Program am Dartmouth College richtet sich explizit auch an gute Studierende und solche, die sich verbessern wollen und ist damit auf einer Linie mit zeitgemäßer Schreibzentrumstheorie und -praxis.

Problematische Folgen guter Absichten

Die beiden Beispiele zeigen, wie schnell gute Absichten problematisch werden können: “What starts off as an experiment can easily become a convenient means of sorting out and marking underprepared students, quarantining them in a clinic until they’re cured of the disease of bad writing.” (S.76) Lerner warnt sehr eindringlich – und anhand zahlreicher Beispiele auch sehr anschaulich – vor dieser Gefahr. Da sich die Problematik, dass Writing Labs unterfinanziert und schlecht ausgestattet sind, leider als roter Faden durch deren gesamte Geschichte zieht, scheint der einfachste Weg, an Ressourcen zu kommen, oft die Argumentation zu sein, dass gezielt Schwächen identifiziert und ausgebügelt werden müssen. Lerner hält dagegen, dass sowohl die Forschung der vergangenen Jahrzehnte als auch die Praxiserfahrung ganz klar zeigt, wie wenig es bringt, sich bei der Schreibförderung auf Fehler und Schwächen zu fokussieren.  Zumal diese „Schwächen“ in der Regel lediglich auf der Sprachoberfläche identifiziert werden. Er beschäftigt sich sogar ein ganzes Kapitel lang mit dem „Project English“, einem staatlich finanzierten Forschungsprogramm aus den frühen 1960er Jahren. Dabei wurden an einigen Universitäten Forschungszentren eingerichtet, die Möglichkeiten der Kompetenzmessung für Schreib- und Lesefähigkeiten entwickelten und daraus Curricula zur Sprachförderung an den High Schools und Colleges entwickelten. Diese staatlich vorgeschriebenen Curricula sollten dazu führen, einen einheitlichen Standard von geschriebenem Englisch zu erreichen. Die entwickelten Curricula entstanden ohne wesentlichen Anteil der Lehrenden, geschweige denn Tutoren, Studierenden oder Schüler. Das Ergebnis waren standardisierte Tests, Grammatik-Arbeitshefte, linguistische Dia-Serien für den Unterricht und vor allem, so Lerner, gähnende Langeweile – aber keine nennenswerte Steigerung der Schreibkompetenzen.

Lerner schlägt vor, dass wir uns wieder auf die Idee von Schreibzentren als Laboren zurück besinnen, die ein anderes Lernen ermöglichen.  Diese Labore dürfen jedoch nicht total außerhalb des Fachunterrichts angesiedelt sein, sondern müssen diesen ergänzen. Dafür ist Zusammenarbeit mit den Lehrenden wichtig, auch wenn sie nicht immer einfach sein mag: „getting faculty to complain about poor student writing is relatively easy. Helping faculty create meaningful opportunities for students to write and receive response is not.” (S.103)

Wird studentisches Schreiben immer schlechter?

Mich begeistert Lerners Buch, weil es mir bewusst gemacht hat, dass gute Absichten allein nicht ausreichend sind um Schreibzentren zu etablieren. Die Vorstellung von Schreibzentren als Nachhilfeinstitutionen für all die nicht genügend vorbereiteten Studierenden, die nun an unsere Universitäten strömen, begegnet mir allenthalben. Aus Lerners Buch lässt sich lernen, wie sich genau dieser Mechanismus immer wieder wiederholt: Die Universitäten müssen sich öffnen und dann werden Klagen laut, wie schlecht die heutigen Studierenden schreiben: „We periodically learn that ‚Johnny can’t write‘ and that a crisis in students‘ literacy skills means that civilization as we know it is going to hell.“ (106) Ob Studierende wirklich schlechter vorbereitet sind, lässt sich nicht beweisen. Auch für den deutschsprachigen Raum lassen sich genau diese Klagen seit rund 200 Jahren nachweisen. Thorsten Pohl hat das in seinem Buch „Die studentische Hausarbeit“ getan. Eine Reaktion auf diese Klagen scheint aber immer wieder zu sein, dass Forschungsprogramme aufgelegt werden, die messen was sich kaum messen lässt. Es folgen kurzfristige Maßnahmen, mit denen das Schlimmste verhindert werden soll und die möglichst wenig kosten, aber große Breitenwirkung erzielen sollen. Was Studierenden wirklich helfen würde ist eigentlich bekannt. Sie brauchen interessierte Leserinnen und Leser, die sie dabei unterstützen zu verstehen, wie akademisches Schreiben funktioniert, warum sie überhaupt schreiben, in welchem Kontext sie schreiben und wie sie beim Schreiben immer auch ihre eigene Identität verhandeln. Ein solcher Ansatz geht weit über Messbares hinaus, und auch weit über das, was viele unter Schreibfertigkeiten verstehen. Aber er kann damit im Hochschulkontext auch wesentlich mehr leisten und zum Beispiel den Umgang mit Diversität und eine studierendenzentrierte Lehre unterstützen. Nur geht das alles gar nicht ohne eine vernünftige und langfristige Finanzierung!

Besorgniserregender Schreibzentrumsboom

In diesem Sinne finde ich den eigentlich wirklich wunderbaren „Boom“ von Schreibzentren an Hochschulen, der sich derzeit beobachten lässt, zugleich auch besorgniserregend. Denn die neuen Schreibzentren bauen fast alle – wie leider auch viele der alten –  auf befristete Projektgelder und sind häufig nicht in dem Maße ausgestattet, wie es eigentlich nötig wäre. Hinzu kommt, dass die staatliche Forschungsförderung ganz stark auf Kompetenzmessungen ausgerichtet ist, die der Arbeit von Schreibzentren nicht gerecht werden. Wie wir uns dieser Ausrichtung auf messbare Ausmerzung von Fehlern und auf Nachhilfe entgegenstellen können, wenn wir zugleich auf Fördergelder angewiesen sind, weiß ich derzeit auch nicht. Lerners Buch ist aber auf jeden Fall ein guter erster Schritt um sich bewusst zu machen, was es in der Geschichte von Schreibzentren alles schon gab und welche Fehler sich vielleicht vermeiden lassen, wenn wir uns dieser Geschichte bewusst sind – auch wenn sie in einem anderen Land stattfand. Und darüber hinaus sei das Buch auch all jenen empfohlen, die sich mit dem Schreiben in Naturwissenschaften befassen.