März 19, 2012
von Katrin Girgensohn
Letzte Woche war ich am Multilitercies Center der Michigan Tech University in Houghton, Nortern Michigan. Auf den Besuch dieses Schreibzentrums war ich gespannt, seit wir in unserem Team den Artikel „New Conceptual Frameworks for Writing Centers“ von Nancy Grimm gelesen und diskutiert haben (Quelle siehe unten). Darin führt Nancy Grimm drei Rahmenbedingungen für Schreibzentren im 21. Jahrhundert aus.
Rahmenbedingungen für Schreibzentren im 21. Jahrhundert
1. Schreibzentren im 21. Jahrhundert müssen im Kontext von globalen Varianten des Englischen arbeiten, d.h. sie müssen akzeptieren, dass es DAS Englische nicht mehr gibt. Schreibzentren müssen Studierende darauf vorbereiten, unterschiedliche Sprach- Varianten zu verstehen, weil sie das auch für ihre späteres Berufsleben brauchen.
2. Schreibzentren im 21. Jahrhundert verstehen unter „literacy“ nicht mehr nur Bildung im Sinne von klassischer Schriftsprache, sondern literacy umfasst z.B. auch visuelle und ikonische Kommunikation, das Verstehen der Unterschiede von Diskursen und das Beherrschen verschiedener Register („Multiliterarcies“). Multiliteracies bedeutet also zum Beispiel ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, welche sprachlichen Register in welchem Zusammenhang passend sind, und dazu gehört auch Körpersprache. Studierende können in Schreibzentren lernen, ein entsprechendes Bewusstsein zu entwickeln, flexibel und undogmatisch zu sein und dies später in ihre Berufsfelder einbringen.
3. Schreibzentren verstehen Multiliteracies als Möglichkeit, soziale Veränderungen zu bewirken. Demnach seien einige Selbstverständnisse von Schreibzentren überholt, so z.B. der Anspruch, „better writers“ (Stephen North) zu erzielen. Ziel müsse es statt dessen sein, die Schwierigkeiten erkennen zu lernen, die sich aus der Bewegung zwischen verschiedenen Sprachen, Bildungssystemen und Kontexten ergeben können. Auch der Anspruch des „minimalistischen“, also nicht-direktiven Tutorings sei demnach nicht mehr richtig. Vielmehr müssten Tutoren direkte und konkrete Wege und Möglichkeiten aufzeigen, die Schreibende in diesen komplexen Verhältnissen wählen können. Das Ziel ist es dann, die Besucher des Schreibzentrums zu befähigen, unterhalb der Oberfläche zu lesen und die Wertesysteme und Machtverhältnisse zu erkennen, die in verschiedenen Kontexten operieren.
Das ist natürlich eine sehr komprimierte Zusammenfassung des Artikels, dessen Lektüre ich sehr empfehle! Beim Lesen im Team waren uns damals, bei aller Faszination, doch einige Aspekte ziemlich abstrakt vorgekommen. Daher habe ich mich besonders gefreut, die Gelegenheit zu haben, Nancy Grimm kennenzulernen und ihr Multiliteracies Center zu sehen.
Michigan Technological University und ihr Multiliteracies Center
Die Michigan Technological University ist eine forschungsorientierte technische Uni mit gut 6000 Studierenden. Die meisten studieren technische Fächer wie Ingenieurswissenschaften. Seit einigen Jahren gibt es einen hohen Anteil internationaler Studierender (ca. 20 %). Das Multiliteracies Center gehört zur Fakultät für Arts and Humanities, ist aber für alle Studierenden da. Nancy arbeitet momentan zusammen mit zwei Graduate Assistant Directors, zwei Undergraduate Assistants und ca. 30 studentischen Coaches (so heißen die Peer Tutoren dort). Die Administratorin ist derzeit im Mutterschutz.
Nancy Grimm bei der welcome reception
Einen Teil des Teams konnte ich gleich am ersten Abend kennen lernen, als Nancy uns zum Abendessen zu sich nach Hause einlud. Am nächsten Morgen wurde ich dann mit einer Welcome-Reception im Center begrüßt, zu der auch der Dean des Departments und verschiedene Kolleginnen anderer Abteilungen kamen. Insgesamt habe ich drei Tage lang bei Beratungen und Lerngruppen hospitiert, an Teamtreffen und Weiterbildungen teilgenommen und an einem Abend einen kleinen Vortrag über die Entwicklungen in Deutschland gehalten.
Der physische Raum des Multiliteracies Center
Ich habe mich sehr wohl gefühlt und dazu hat nicht nur das nette Team beigetrafen, sondern auch die Räume sind einfach einladend. Der Hauptraum ist ungefähr so groß wie unser Schreibzentrum in FfO und durch große Fenster zum Flur hin sehr offen. Im Raum verteilt stehen viele kleine Runde Tische mit bunten Stühlen für die Beratungen. Da die Tische und Stühle Rollen haben, lässt sich der Raum flexibel verändern. Es gibt außerdem eine Schreibtischecke für die Administratorin und eine am Eingang, die sich als Rezeption verwenden lässt, aber nicht immer besetzt ist. Mir ist gleich aufgefallen, dass eine Wimpelkette „Frieden“ in verschiedenen Schriften und Sprachen wünscht und eine Weltzeituhr anzeigt, wo es gerade hell ist auf der Erde. Vom Hauptraum gehen verschiedene kleine Räume ab: Ein Büro für die Graduate Assistants, drei kleine
Gespräche im Multiliteracies Center
Gruppenarbeitsräume, ein Raum für die Coaches und ein Flur, der zu ein paar weiteren Büros und Besprechungsräumen führt. Alle angrenzenden Räume haben Fenster in den Türen und Wänden, so dass ein sehr transparenter und offener Eindruck entsteht.
Writing Coaches
Die Coaches kommen aus den unterschiedlichsten Fachrichtungen, viele sind Natur- und IngenieurswissenschaftlerInnen. Mit Motivations- und Empfehlungsschreiben können sie sich für die Stellen bewerben. Wenn sie nach dem Bewerbungsgespräch eingestellt werden, absolvieren sie ein einmal pro Woche stattfindendes Seminar und nehmen mit dem gesamten Team an den wöchentlich stattfindenden Dienstagabend-Weiterbildungen teil. Außerdem hospitieren sie, suchen selbst Schreibberatungen auf und treffen sich einmal wöchentlich mit erfahrenen Coaches zum Erfahrungsaustausch. Nancy bietet außerdem wöchentliche Lektürerunden an, in denen sie mit interessierten Graduate Students Texte liest und diskutiert.
Writing Coaches feiern in ihrem Raum den "Pie Day", den Tag des griechischen Buchstaben pi, der für die Zahl 3,14... steht. In der amerikanischen Datumsschreibung entspricht das dem 14.3. und pie ist Kuchen, den hatte eine der Coaches für alle gebacken.
Die Coaches bieten Einzelberatungen an und moderieren Lerngruppen. Täglich von 11-15 Uhr gibt es offene Sprechstunde, die immer mit mehreren Coaches belegt ist. Darüber hinaus haben alle Coaches bestimmte Zeiten, in denen sie für verabredete Beratungen im Center sind. Angestrebt werden „weekly appointments“, d.h. eine regelmäßige wöchentliche Zusammenarbeit mit bestimmten Studierenden.
Study Teams (Lerngruppen)
Ein wichtiger Bestandteil des Centers sind die Lerngruppen. Vor ein paar Jahren wurde das Studium Generale der Michigan Tech neu strukturiert und Nancy hat darauf hingewirkt, dass die Studierenden mehr interkulturelles Wissen erlangen. Seit dem müssen alle Studierenden eine große Vorlesung zu „World Cultures“ besuchen oder alternativ eine Sprache lernen. Die Vorlesung führt in 2 Lesungen pro Woche in verschiedene Kulturen der Weltgeschichte und von Heute ein und wird ergänzt durch wöchentliche Film- und Musikvorführungen. Die Studierenden müssen verschiedene Texte und Examen schreiben. Wenn sie wollen, können sie sich zu Lerngruppen zusammenschließen, die sich 2x wöchentlich im Multiliteracies Center treffen und von Coaches moderiert werden. Es nutzen sehr viele Studierende diese Gelegenheit und die Statistiken zeigen, dass sie oft deutlich bessere Noten erzielen als Kommilitonen die keine Lerngruppen haben. Die Coaches helfen den Gruppen, das Studieren zu lernen. Sie diskutieren mit ihnen Inhalte der Vorlesung, aber es geht auch um das Mitschreiben, um Zeitplanung, Lernsysteme, Interpretation von Filmen und Musik und effektive Vor- und Nachbereitung. Thema ist auch das Zusammmenarbeiten in den Teams, die oft interkulturell gemischt sind.
Was ist es also, das dieses Zentrum zu einem Multi Literacies Center macht?
Zum einen ist es die Ausbildung der Coaches. Es ist Nancy sehr wichtig, die literacies, die Studierenden schon mitbringen, zu würdigen. Sei es die Muttersprache oder sei es die mathematische Sprache der Ingenieure. Das Center hilft dabei, weitere literacies auszubauen. Es geht nicht um Defizite. Die Coaches sollen den Studierenden dabei helfen, zu verstehen, wie unterschiedlich verschiedene Sprachen und Diskurse funktionieren.
In den Gesprächen ging es oft nicht in erster Linie um mitgebrachte Texte, sondern um das Studierenden im Allgemeinen: Was verwendest du für Techniken zum Mitschreiben, wo und wie lernst du am besten, hast du verstanden, was von dir verlangt wird, wie motivierst du dich wenn Draußen so schön die Sonne scheint? Wenn internationale Studierende kamen, drehte sich das Gespräch erstmal um Fremdsprachen, Auslanderfahrungen und Zukunftspläne. Dabei hatte ich oft wirklich mehr den Eindruck eines Gesprächs als einer Beratungssituation. In einem der Gespräche erkundigte sich ein Austauschstudent aus Korea, wie er bestimmte Steuerformulare ausfüllen muss. Dann haben Coach und Student gemeinsam überlegt, wie sie das herausfinden können.
Auch die Werbung des Centers stellt nicht das Schreiben in den Mittelpunkt, sondern erwähnt es gleichberechtigt neben Denken, Design und Kommunikation, alles mit dem Ziel des akademischen Erfolgs. Schreiben wird also nicht isoliert von anderen akademischen Tätigkeiten.
Als etwas Besonderes habe ich auch die Lerngruppen erlebt. Sie erinnern von der Idee her an die Tutorien, die es bei uns zu großen Vorlesungen gibt. Aber die Lerngruppen sind mit 4-8 Studierenden viel kleiner und persönlicher und zielen so darauf, den Studierenden zu zeigen, wie sie mehr erreichen können, wenn sie gemeinsam arbeiten. Sie sind außerdem freiwillig, was sicherlich zu einer anderen Arbeitsatmosphäre beiträgt.
Weltzeituhr Multiliteracies Center
Alles in allem hatte ich den Eindruck einer sehr erfolgreichen Verschmelzung von Schreibberatung, Sprachlernberatung, Lernberatung, interkulturellem Training, Studienberatung und Sozialberatung. Ich habe massenhaft Anregungen mitgenommen für das neue Zentrum für Schlüsselqualifikationen, das an der Viadrina entstehen soll und denke, dass alle Bereiche dieses Zentrums sehr eng zusammenarbeiten sollten!
Literatur
Grimm, N. M. (2009) ‚New Conceptual Frameworks for Writing Center Work‘ The Writing Center Journal 29 (2), 11-27
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